Konstantijn

In langsamen, behäbigen Wellen zog das silbergraue Wasser des kleinen Flusses unter dem Bogen einer steinernen Brücke hinweg. Die gestutzten Weiden am Ufer wiegten sich im warmen Spätsommerwind. Einzelne der schmalen, silbergrünen Blätter nahmen schon eine leuchtend goldgelbe Farbe an, lösten sich bei einem heftigeren Windstoß von den dünnen Zweigen und segelten hinunter auf die Wasseroberfläche, um auf den Wellen tanzend im finsteren Tor des Brückenbogens zu verschwinden.

Zwei Jungen saßen auf dem gemauerten Geländer, ließen die Füße über dem Wasser baumeln und schauten den Blättern nach. Der Jüngere war vielleicht 12 Jahre alt, hatte strohblondes Haar und ein vorwitziges, rundes Gesicht. Er hatte eine Weidenrute in der Hand und peitschte damit nach den treibenden Blättern.
Der andere war gut zwei Jahre älter, aber für sein Alter ausgesprochen schmächtig und blass. Sein schmales Gesicht wurde von kinnlangen, rotblonden Haaren eingerahmt und hatte einen ernsten, nachdenklichen Ausdruck.
Eben schlug der Blondschopf erneut nach einem Blatt, so dass es unter Wasser gedrückt und ein Stück weit in der tieferen Strömung mitgerissen wurde.

„Lass die Blätter doch in Ruhe treiben, Jan“, sagte der Rothaarige. Er schwang die Beine über die Mauer auf den Laufweg der Brücke, rutschte von der Brüstung, lief hinüber zur anderen Seit und schaute hinunter. Das Blatt kam aus dem Schatten des Tunnels hervor und wurde vom Wasser herumgewirbelt. Doch ob es daran lag, dass es so leicht war oder so eine glatte schnittige Form hatte, es wurde wieder nach oben getrieben und glitt unbeirrt weiter auf der gleichmäßig dahinströmenden Wasseroberfläche dahin.
„Wat haste nur mit den Blättern?“ fragte der Blondschopf, sprang von der Mauer und lief zu seinem Freund hinüber.
„Ich weiß auch nicht“, antwortete der. „Ich…“

„Klar, dass du nichts weißt, Konstantijn. Du bist ja auch ein Vollidiot.“
Die beiden sahen sich um. Ein Trupp von vier Jungen hatte sich hinter ihnen aufgebaut, jeder von ihnen bestimmt doppelt so breit wie Konstantijn und jeder mindestens ein oder zwei Jahre älter. Der Wortführer war ein massiger Kerl mit blonden Haaren, noch heller als die von Jan. Konstantijn verschränkte die Arme vor der Brust und sah den Jungen unbeeindruckt mitten ins Gesicht. Diese unerwartet ruhige Reaktion verwirrte sein Gegenüber für einen Augeblick. Doch dann verzog sich seine Miene zu einem breiten Grinsen. Er drehte sich zu seinem Kumpanen um und feixte: „Seht ihr? So hohl in der Birne, der kann nicht mal was sagen, wenn man ihn anspricht.“

Jan konnte nicht mehr an sich halten.
„Konstantijn hat sehr viel mehr im Kopf, als ihr vier Hohlköpfe zusammen“, platze es aus ihm heraus. Sein rundes Gesicht lief rot.
„Guckt mal, eine Tomate mit Strohmütze“, lachte der Junge. Seine drei Kumpane stimmten ein.
Konstantijn fasste den kleinen am Arm.
„Reg dich nicht auf, Jan. Lass sie einfach reden. Wenn du dich aufregst, haben sie doch erreicht, was sie wollen.“
Die Jungen lachten weiter.
„Ach ja, der brave Konstantijn, der jedem Streit aus dem Weg geht und einem jeden den Spaß verdirbt.“
Konstantijn sah die vier ernst an. Sein Blick aus zusammengekniffenen Augen war eine Warnung. Doch das erkannten die Jungen nicht. Oder wollten es nicht erkennen.
„Komm, Jan, wir hauen ab“, sagte er.

Zwei der Gruppe stellten sich ihnen in den Weg. Konstantijn überragte sie um einen halben Kopf, doch wirkte er ihnen gegenüber geradezu zerbrechlich.
„Leute, wir wollen keinen Stress“, sagte er. „Lasst und einfach durch, ok?“
Doch die beiden blieben stehen. Allmählich wurde Konstantijn nervös. Und er wusste, dass das nicht gut war. Für ihn, aber besonders für die anderen.
„Pieter, pfeif deine Gorillas zurück“, sagte er an den blonden Jungen gewandt, mit einer Bestimmtheit, die den älteren überraschte. Doch der sah nicht im Geringsten ein, warum er sich von dem schwächlichen Rotschopf etwas sagen lassen sollte.
„Und was wenn nicht?“ fragte er herausfordernd grinsend. Noch bevor Konstantijn etwas erwidern konnte, hatte einer der Jungen ihn schon zurückgeschubst, so dass er gegen die Mauer stieß und sich beiden Hände anstützen müsste, um nicht hinterrücks kopfüber in den Fluss zu fallen.
„Lasst uns in Ruhe, ihr Blödmänner“, zeterte Jan. Konstantijn versuchte noch, ihn am Ärmel zu fassen zu bekommen, doch der Kleine stürmte auf einen der großen Jungen zu und trat ihm mit voller Wucht gegen das Schienenbein. Der Junge heulte auf.
„Na warte, du kleine Ratte“, zischte Pieter und packte Jan am Kragen. Der Kleine zappelte und schlug Wild um sich. Die beiden anderen hielten Konstantijn fest. Pieter drückte Jan gegen die Brüstung.
„Jetzt lernst du schwimmen“, sagte er.
Jan wand sich und schrie und war den Tränen nahe.
„Pieter, du Feigling. Vergreif dich an jemandem von deiner eigenen Größe“, schrie Konstantijn.
Pieter sah sich nach ihm um.
„Keine Sorge, du Spinner. Du kommst auch noch dran, wenn die kleine Ratte baden gegangen ist.“

Das war zu viel. Mit Mühe war es Konstantijn gelungen, seinen Zorn zurückzuhalten, doch nun brach er aus. Er rammte seinen beiden Bewachern die Ellenbogen mit solcher Wucht ihn den Bauch, dass sie sich stöhnend zusammenkrümmten und ihn losließen. Dann stürzte er sich auf Pieter. Mit einer Kraft, die man seiner schmächtigen Statur niemals zugetraut hätte, ließ er die geballte Faust gegen Pieters Brust sausen. Der rang keuchend nach Luft und ließ Jan los. Der Kleine fiel auf das Hinterteil, was ihm nun doch die Tränen in die Augen trieb.

Inzwischen hatte der, dem Jan gegen das Schienenbein getreten hatte, sich erholt, und wollte Konstantijn von hinten packen und festhalten, damit Pieter auf ihn einschlagen konnte. Doch Konstantijn reagierte schnell. Er wirbelte im Zuschlagen herum und traf seinen Unterkiefer. Der Junge taumelte, ging zu Boden und spukte Blut und zwei Schneidezähne aus. Pieter hingegen nutz die Zeit. Er erwischte Konstantijns Gesicht, jedoch nur von der Seite, so dass er mit einer Platzwunde auf dem Wangenknochen davonkam. Aber als er das Blut seine Wange hinunterlaufen fühlte, gab es kein Halten mehr. Er holte weit aus. Seine Faust traf seinen Gegner auf der linken Wange, mit so viel Wucht, dass er zur Seite geschleudert wurde. Benommen klammerte Pieter sich an der Brüstung fest. Noch bevor er wieder auf die Beine kommen konnte, war Konstantijn bei ihm, fasste ihm am Hals und hob ihn über die Mauer. Spätestens bei diesem Anblick hatten Pieters Kumpane genug und suchten so schnell das weite, wie sie in ihrem Zustand nur konnten. Jan starrte mit aufgerissenen Augen auf seinen Freund, der den viel größeren und stärkeren Jungen wie eine Puppe hochgehoben hatte.
Ängstlich und verwirrt sah Pieter ihn an, unfähig zu begreifen, was mit ihm geschah. Konstantijn sah seinen Gesichtsausdruck. Doch es kümmerte ihn nicht im Geringsten.
„Jetzt lernst du schwimmen“, sagte Konstantijn finster und ließ los. Mit einem lauten Platschen landete sein Gegner im Wasser.

Er hörte Jan etwas rufe. Der kleine blonde Junge rappelte sich mühsam auf und stolperte mehr als dass er rannte, zur Brüstung und schaute hinunter.
„Beim Imperator, Konstantijn, was hast du gemacht!“ rief er.
Konstantijn erwachte wie aus einem Tram. Ungläubig starrte er in den Fluss. Pieter war mit dem Gesicht nach unter im Wasser gelandet und regte sich kaum. Die Strömung zog den massigen Körper unter den Brückenbogen.
„Verdammt noch mal“, entfuhr es ihm.
Er rannte über die Brücke, hechtete über die Brüstung auf der anderen Seite, rutschte die Böschung herab und warf sich ins Wasser. Die von oben so ruhig wirkende Strömung war stärker, als sie aussah. Gegen den Sog ankämpfend watete er zur Mitte des Flusses. Wenn es ums Prügeln ging, wenn er wütend war, dann konnte er Kraft entwickeln, dass es ihm selbst unheimlich war. Warum beim Imperator konnte das nicht einmal, nur ein einziges mal passieren, wenn er es wirklich brauchte. Das Wasser reichte ihm bis zur Brust und die Strömung zog ihm fast die Beine weg. Aber irgendwie schaffte er es, sich zu halten.

Pieter trieb reglos unter der Brücke hervor. Konstantijn bekam ihn am Arm zu fassen, zog den Jungen zu sich heran und drehte sein Gesicht nach oben, hielt es so gut es ging über Wasser und watetet und paddelte mit seiner Last zurück. Jan hüpfte am Ufer aufgeregt auf und ab, doch als Konstantijn nach dem Gras am Wasserrand griff, fasst er seine Hand und half ihm, sich selbst und Pieter auf dem Wasser zu ziehen.
Einen Moment lang lag der blonde Junge reglos auf dem Gras. Hilflos saßen die beiden Freunde daneben und starrten ihn an.
„Du, Konstantijn“, begann Jan. „Meinst du, der ist tot?“
Plötzlich begann Pieter zu husten und Wasser auszuspucken. Konstantijn atmete innerlich auf und drehte ihn auf die Seite, damit das Wasser nicht gleich wieder zurück in die Lunge lief. Pieter röchelte und starrte ihn an.
„Du bist total irre“, stieß er hervor.
Konstantijn wollte ihm aufhelfen, doch er stieß ihn von sich.
„Fass mich nicht an, du Irrer!“ rief er und richtet schwankend auf, bis er wieder halbwegs sicher auf beiden Füßen stand. „Das hat noch Folgen, das kannst du aber glauben!“
Dann entfernte er sich rückwärts gehend, um Konstantijn nicht aus den Augen zu lassen, stolperte fast über eine Baumwurzel, drehte sich um und rannte davon. Jan und Konstantijn blieben am Ufer zurück.

„Puh, ich hoffe, das gibt keinen allzu großen Ärger“, schnaufte Jan.
„Wer weiß“, sagte Konstantijn nur.
Jan sah ihn an verwirrt an. Dann begann er zu grinsen.
„Mann, dem hast du’s aber gezeigt. Ich wusste gar nicht, dass du so stark bist“, sagte er nicht ohne eine Spur Bewunderung.
„Ich auch nicht“, antwortete Konstantijn. „Und mir wäre es lieb, wenn das auch kein anderer erfährt. Freundschaftsgeheimnis. Ehrenwort?“
Er streckte Jan die Hand hin. Der Kleine schlug ein.
„Freundschaftsgeheimnis. Ehrenwort.“
Konstantijn stand auf und strich sich das nasse, rotblonde Haar aus dem Gesicht.
„Komm Jan, lass uns nach Hause gehen“, sagte er.
Die beiden stapften los. Auf dem ganzen Weg ging der Vorfall Konstantijn nicht mehr aus dem Kopf. Wieder einer dieser unkontrollierten Ausbrüche. Und diesmal wäre es wirklich beinahe schief gegangen. Aber eins war diesmal neu gewesen, und das war gut. Er hatte es zum ersten Mal geschafft, seine Kraft auch dann zu halten, wenn er wieder voll und ganz bei Verstand war und wenn er sie für etwas Sinnvolles einsetzen konnte.